Leseprobe Toter Nachbar Guter Nachbar

 

 

1

 

Vor 15 Jahren: Er saß ganz nah bei Chantal, er strich ihr mit zwei Fingern über den Unterarm, ganz sachte. So wie damals, als er sie zum ersten Mal sah, als kleiner Junge, sein gerade einen Tag altes Schwesterchen, so zart, so verletzlich. Damals berührte er sie nur mit den Fingerkuppen, um sie nur ja nicht zu verletzen, so zerbrechlich erschien dem vierjährigen Bruder dieses Menschlein im Arm der glücklichen Mutter. Heute war ihre Haut noch immer zart, aber sie war kalt. Er drückte seine Wange an die ihre. Er würde sie nie wiedersehen. Er hatte keine Schwester mehr, er selbst war nun kein Bruder mehr. Gasser küsste sie auf die Stirne, stand auf und verließ den Leichenschauraum.

 

Die Herbstsonne stach ihm in die Augen, er ging im Wind, er ging stadteinwärts, er wusste nicht wohin. Sie hatten ihm das Wertvollste genommen, sie hatten seine kleine Schwester getötet. Er würde in Erfahrung bringen, wer hinter diesem feigen Mord steckte. Gasser atmete tief und gleichmäßig, er ließ seinen Tränen freien Lauf. Chantal würde keinen Frühling mehr erleben, keinen einzigen. Ihre Welt war gestorben. 18-jährig aus dem Leben gerissen. Gasser schwor, sich an ihren Mördern und an jedem einzelnen dieser Bande zu rächen. Wann, das spielte keine Rolle. Selbst wenn es 15 Jahre dauern sollte. Adieu Chantal.

 

2

 

Heute, 15 Jahre nach dem Mord an Chantal Gasser.

Sonntag, 18. Februar, 19:07, erster Todesfall: Das Gute ist, dass längst büschelweise Gras über diese Sache gewachsen ist. Piero ist zu Hause und alleine. Ich klopfe artig an die Wohnungstür. Schön moderat, damit sich kein Wohnungsnachbar gestört fühlt. Sie haben die Wände im Treppenhaus frisch gestrichen und den alten Holzlauf des Geländers ausgetauscht. Gegen einen fürchterlich hässlichen und auf den ersten Blick billigen orangefarbenen Handlauf aus Plastik. Die Tür fliegt mit Schwung auf, Piero erkennt mich erst auf den zweiten Blick und erschrickt.

„Was, du?, du bist es!“

„Schön dich zu sehen, Piero“, lächle ich charmant und führe aus,

„ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schaue einfach mal kurz vorbei. Alte Freunde sollen sich nicht aus den Augen verlieren. Ich darf reinkommen, ja?“

Ich lasse ihm keine Wahl, stehe schon im Vorraum und drücke die Wohnungstür hinter mir zu. Wie alt er doch geworden ist! Wo sind all seine schwarzen Locken geblieben?

„Willst du nicht ablegen?“, fragt Piero. Er deutet auf meinen Schutzanzug, aber er scheint eher vor meinen eingefetteten Augenbrauen und den Einweghandschuhen zurückzuschrecken. Die irritieren ihn verständlicherweise.

„Nein danke.“

Beinah grob muss ich Piero tiefer in den Bauch seiner eigenen Wohnung hineindrängen, so angewurzelt wie er dasteht. Ich möchte wenigstens eine zweite geschlossene Türe im Rücken haben: aus Gründen der Schallentwicklung. Ich weiß wie kein anderer, wer in diesem Haus was hören kann. Daran hat sich wohl die letzten 15 Jahre nichts geändert, daran wird sich wohl auch die nächsten 15 Jahre nichts ändern. Außer sie reißen das Mehrparteienhaus ab, diesen alten Dampfer. Ich hätte nichts dagegen. Piero bringt kein Wort heraus und ich habe auch keine Lust, in einem fort auf Smalltalk zu machen. Stattdessen ziehe ich den Schlosserhammer aus der Tasche und gehe an die Arbeit. Schade, dass mir dieser billige Overall zu weit ist, aber ich brauche ihn ja nur heute Abend. Dann wird er geschreddert. Beim nächsten Mal nehme ich eine Größe kleiner. Der Hammer mit seinem 400 Gramm schweren Kopf liegt gut in der Hand, aber auch hierbei ginge es gerne eine Nummer kleiner. So, mein alter Freund Piero: Der Tag ist gekommen.

 

Ich halte den Hammer fest in der Rechten, ich wuchte ihn wieder und wieder gegen Pieros Schädel, Piero sackt zusammen. Ich knie über ihm, der Hammerkopf fährt im Sekundentakt gegen nachgebende Knochen, Fragmente, Splitter, ins Fleisch, in rosafarbenen Hirnbrei, in den Matsch, wie Preiselbeerkonfitüre in widerspenstiges Hafermus geschlagen. Erst als völlig klar ist, dass es keinen lebendigen Menschen namens Piero mehr in diesem Raum gibt, lasse ich ab. Die Wahl des Einwegoveralls war eine gute Idee, denn ich bin von oben bis unten bekleckert von Pieros Blut. Ich ziehe die Überhandschuhe ab, streife den billigen Schutzanzug ab und verstaue alles im mitgebrachten Plastikbeutel. Jetzt sehe ich wieder wie ein anständiger Mensch aus. Maske wieder über den Kopf, Wollmütze drüber. Draußen ist es sonderbar kalt. Niemand kennt mich und ich kenne niemanden.

 

Sie haben sich zusammengetan. Damals, in den frühen Nullerjahren. Vor 15 Jahren, als jedermann auf einmal per Mobiltelefon immer und überall erreichbar war. Unscheinbare, brave Bürger, Bewohner des Gessener Vorstadtbezirkes Innerfelden. Niemand hätte ihnen zugetraut, wie klug und umsichtig sie sich untereinander vernetzten und organisierten. Niemandem von ihnen hätte man diese Schandtaten zugetraut, die sie ohne mit einer Wimper zu zucken begingen, als sie sich stark genug im Verband ihrer Bürgerwehr fühlten. Sie fühlten sich unangreifbar. Sie haben ihr Stadtviertel gesäubert, von den Eindringlingen befreit, die mit der Inbetriebnahme der neuen Universität sowohl Straßenbild als auch Wohnverhältnisse so radikal verändert hatten. Einer von ihnen war Piero, Piero Rossi. Er war nun der Allererste, dem späte Rache zuteil geworden war. 15 Jahre nach Chantals Tod lag er mit zertrümmertem Schädel auf dem Küchenboden seiner Wohnung. Sein Blut war noch nicht geronnen, aber es war kalt. Abgekühlt von Körpertemperatur auf Raumtemperatur.

 

3

 

Derweil im Wohnzimmer bei Rauters: Altkommissar Paulchen zog sich stets die schweren Kopfhörer über das dichte weiße Haar, wenn er seine Lieblingsmusik lauter stellte. Nur so konnte er sich ohne Gewissensbisse seiner großen Liebe widmen. Ella Fitzgerald war natürlich nur seine große musikalische Liebe. Paulchen hatte nie wirklich begriffen, wie man eine derartige Abneigung gegenüber Ellas Gesangskünsten entwickeln konnte, so wie es seine Ehefrau Maria bei jedem erdenklichen Anlass unmissverständlich zu erkennen gab. Immerhin war Paulchen seine Maria vor über vierzig Jahren auch aufgrund ihrer Wesensähnlichkeit zur großen Jazzsängerin Ella Fitzgerald aufgefallen. Erst vor wenigen Wochen war ihm dieser Gedankenblitz eingeschossen:

‚Meine Maria ist bestimmt bitter eifersüchtig auf meine Ella Fitzgerald. Nur deshalb hasst sie ihre Lieder und ihre Stimme und ihre lässige Sanftheit. Weil Maria wohl um ihre Wesensverwandtschaft mit Ella weiß und sich stets wie meine zweite Wahl fühlt.‘

So bemerkte Paulchen Rauter erst im Alter von 65 Jahren, dass er seine Maria seit Jahr und Tag mit Ella*Fitzgeralds Musik betrogen hatte. Aber ohne Ellas Lieder konnte und wollte er nicht sein. Niemals. Und ohne seine Frau wollte er auch nicht sein. Niemals.

 

4

 

Sonntag, 18. Februar, 19:14, zweiter Todesfall, zweiter Mörder: Wie habe ich diesen Srecko gehasst! Kleine niederträchtige, giftige Drecksschlitzaugen, diese miese Ratte! Ruhig Blut, ruhig Blut. Warum ich unbedingt Messer oder Hammer als Tatwaffe verwenden soll, begreife ich nicht. Ist mir egal. Wir halten uns an die Anweisungen des Guten Bruders. Srecko muss sterben. Er war schon damals deutlich kräftiger als ich. Ich nehme nicht an, dass sich daran etwas geändert hat. Ich hätte eine schöne Pistole auftreiben können, die Beretta 92 aus Familienbesitz, kein Problem. Ich hätte sogar einen schlanken Nachbauschalldämpfer obendrauf gesteckt. Aber es heißt: Wir gehen immer nach demselben Strickmuster vor: Messer ins Herz oder Hammer oder äußerstenfalls Eispickel auf und in den Schädel trommeln! Also, ruhig Blut jetzt. In Sreckos Arbeitszimmer brennt Licht. Der Streber! Nichts in der Birne, aber immer doppelt so lange an jeder Aufgabe dransitzen wie alle anderen. Natürlich machen so Miststücke wie Srecko irgendwann Karriere! Ruhig Blut jetzt. Du wirst nie wieder das Licht in deinem Arbeitszimmer anmachen. Seine Frau Elisabeth kommt heute erst spät nachts nach Hause. Die treibt sich längst mit anderen rum. Mein Zentralschlüssel öffnet alle Mietshäuser der Stadt. Wofür gibt es überhaupt noch Türschlösser an den Haustoren, wenn ohnehin jeder reinkommt? Da muss man doch zum Mörder werden! Mit dem Zentralschlüssel bist du in jedem Haus drin. Das letzte Hindernis ist die Wohnungstür: ein Kinderspiel. Ruhig Blut. Ich jedoch muss nicht einbrechen, Srecko wird mir freiwillig aufmachen. Nicht grübeln, handeln! Srecko ist zu Hause. Srecko, dein letztes Stündchen hat geschlagen.

 

Ich melde mich mit meinem Namen und er öffnet die Tür. Er ist fett geworden. Ich mache auf Notfall und bitte um Einlass – mich verfolge jemand, sage ich, und ich kenne in der Gegend niemand mehr außer ihm, außer Srecko. Er lässt mich rein. Ich halte den Hammer in der Hand, ich schlage sofort auf Srecko ein, treffe erst den Hals, das Genick, dann endlich die Schläfe, und schon liegt er wehrlos da, rücklings, Srecko, der Streber, und ich habe freie Hand, mein Werk mit weiteren zielsicheren Hammerschlägen zu Ende zu bringen. Es muss sein. Es musste so sein. Ich habe Srecko das Lichtlein ausgeblasen. Rache ist süß.

 

Sie haben sich zusammengetan. Damals, in den frühen Nullerjahren, vor 15 Jahren. Auch das nunmehrige zweite Opfer, Srecko Olip, war damals Mitwisser und Mittäter gewesen. Die Mörder der jungen Studentin Chantal Gasser liefen wohl immer noch frei herum. Sie alle würden drankommen, Helfershelfer, Komplizen, Mitbeteiligte, Täter. So hatte es sich Chantals Bruder geschworen. Das Rad begann sich nun wieder zu drehen. In die entgegengesetzte Richtung. Piero Rossi und Srecko Olip. Der Anfang war getan.

 

5

 

Altkommissar Paulchen verwöhnte sein alt Mariechen jetzt ganz besonders. Sie hatte sich in all den Jahren tatsächlich zurückgesetzt gefühlt! Nur deshalb stürzte Maria jeder Pieps ins Jammertal, der nur im Entferntesten nach Ella Fitzgerald klang. Ella war seit langer Zeit schon tot, aber so mausetot konnte diese begnadete Sängerin gar nicht sein, dass sie für Maria Rauter nicht immer noch brandgefährlich war – als Rivalin, als Todfeindin! Erst jetzt begriff Paulchen Rauter, was er seiner Frau über all die Jahre angetan hatte. Also beschloss er, auf Wiedergutmachungstour zu gehen: Abends führte er seine Ehefrau zum Griechen aus. Maria rollte verschwörerisch ihre immer noch betörend blassblau türkisen Augen, als sie diese vorzüglichen Kalamata Oliven und Peperoni aus Kreta verkostete, ganz bedächtig an der Fasolada löffelte, der köstlichen weißen Bohnensuppe mit Tomaten, Paprika und Zwiebeln, dazu am Pitabrot mit Knoblauch knabberte und schließlich mit ihrem alten Polizisten auf ein Gläschen Harzwein anstieß, und noch auf ein zweites davon, ja, ein drittes. Und Paulchen sprach,

„auf dich, mein Schatz“, und Mariechen lächelte,

„auf uns, mein angeheiterter Chefkommissar. Denke daran, dass du mich heute noch heimfahren musst!“

 

Nächsten Tages tingelte Paulchen in die Stadt und kehrte mit einem großen runden Ding nach Hause zurück: zweifelsfrei eine Hutschachtel! Mariechens blassblau türkise Augen glänzten hell. Die Vorfreude auf das Glück. Vorsichtig hob sie den Deckel hoch und zupfte das Tüchlein zur Seite. Sie nahm den Damenhut in beide Hände und drehte ihn ringsherum.

„Wunderschön!“

„Ja?“

Ein italienischer Glockenhut in grauem Wollfilz, mit einseitig aufgeschlagener Krempe und Blütenpaspel seitlich dran.

„Ist der wunderschön, mein Kommissar!“

Schließlich, um die Sache abzurunden, überraschte er sie mit Theaterkarten. Paulchen wollte Mariechen klipp und klar zeigen, dass sie für ihn immer allererste Wahl gewesen war, von Anfang an. Maria Rauter liebte nicht nur Hüte, sondern auch das Theater. Einzig Vorführungen, die im weitesten Sinne etwas mit Jazzmusik oder gar mit dieser penetrant körperlichen Musik von Ella Fitzgerald zu tun hatten, die mochte sie nicht: warum bloß? Ansonsten war ihr alles recht. Möglichst brutal und realitätsnah konnte und sollte es dabei auf der Bühne zugehen. Alles von ihrem Favoriten Shakespeare sowieso, und an diesem speziellen Abend stand ein Stück des Dramatikers Bernhard auf dem Programm.

„Wunderschön! Ein Fest für Boris!“, rief Maria Rauter hocherfreut, als sie die Tickets aus dem Kuvert zog. Sie kannte den Inhalt des absurden Theaterstücks rund um den armen Boris und war gespannt, wie sich die Schauspieler wohl als sogenannte beinlose Krüppel verkleiden würden. Zur Feier des Tages würde Maria der Welt zudem ihre neue italienische Hutglocke präsentieren. Abends zur Aufführung hatte Paulchen Rauter natürlich längst von den zwei aktuellen Morden gehört. Aber er mischte sich nicht ein. Er ging mit seiner Frau, mit seiner Geliebten ins Theater und wartete ab. Paulchen befand sich als ehemaliger Chef der Gessener Kriminalpolizei längst in Ruhestand, und der Blick von draußen nach drinnen gefiel Rauter in zunehmendem Maße. Der Abschied aus dem Berufsleben war ihm nicht schwergefallen. Nur manchmal verspürte er noch den Drang, bei der Aufklärung von Schwerverbrechen mitzuwirken. Mariechen hakte sich bei ihrem alten Lover ein. Die beiden unternahmen nach dem gelungenen Theaterabend noch einen ausgedehnten Spaziergang durch die Innenstadt.

„Mädchen, dieser Hut steht dir ausnehmend gut!“

„Ich weiß, mein Kommissar.“

 

6

 

Alexander Schwarz war recht stolz, als ihm die Leitung der Gessener Kriminalpolizei Gruppe Mord übertragen wurde. Aber die kleine Mordgruppe erwies sich als großes Sorgenkind: Ihre Mitarbeiter waren völlig unterfordert und mussten Aufgaben anderer Unterabteilungen übernehmen. Da kam die erste Leiche gerade recht. Montagmorgen sei Piero Rossi mit eingeschlagenem Schädel auf dem Küchenboden seiner Wohnung gelegen, so die Aussage des Hausmeisters Adi Kramer. Er habe den Klarinettisten reglos und leblos vorgefunden. Die Renovierung des gesamten Stiegenhauses sei soweit abgeschlossen, erzählte Adi, nur der Einbau der Türschwellen zu den Wohnungen stehe noch aus. Das interessierte Kommissar Linda Kleistner nicht sonderlich.

„Das Stiegenhaus steht jetzt nicht so im Mittelpunkt, nicht wahr?“

Hausmeister Adi beschwerte sich sogleich über die unfaire Behandlung und Begriffsstutzigkeit seitens der Kriminalbeamtin und erläuterte, dass Pieros Blut aus diesem Grund, eben weil es noch keine neuen Türschwellen im Hause gab, von Pieros Küche bis ins Treppenhaus hinaus geronnen sei, und dass er nur deswegen Nachschau gehalten habe, weil er Blut von Himbeersaft genau zu unterscheiden wisse. Linda lächelte streng.

„Ach so, verstehe. Adolf, nicht wahr?, Adolf Kramer. In Ihrer Personalie steht nämlich Adi.“

Dabei verweilte der Blick der hübschen blonden Kommissarin einen Moment zu lange am markanten Oberlippenbärtchen ihres Gegenübers.

„Adi!“, schrie der Hausmeister. Er sprang auf:

„Ich heiße Adi! Ich habe meinen Namen auf Adi ändern lassen – das hat mich eine Stange Geld gekostet!“

„Ach so, verstehe. Entschuldigen Sie, Adi. Bitte beruhigen Sie sich.“

„Ich kann Ihnen vorrechnen, um welche Beträge es sich dabei handelt!“

„Vielen Dank, nein, Herr Kramer, das möchte ich nicht wissen. Lassen Sie uns zur Sache kommen.“

„Abzocke!“

Hausmeister Adi habe keinen Schlüssel zur Wohnung des Mordopfers, nein. Die Türe sei nicht abgesperrt gewesen, ja. Piero Rossi habe die berufliche Tätigkeit eines Klarinettisten beim örtlichen Philharmonieorchester ausgeübt. Adi Kramer beschwerte sich darüber, dass er sich wie die Auskunftei zu Pieros persönlichen Angelegenheiten vorkam. Darum solle sich die Polizei gefälligst selbst kümmern! Kommissarin Linda Kleistner ließ es bei dem kurzen Protokoll bewenden und verabschiedete den Hausmeister, der eine psychologische Betreuung ablehnte und verächtlich den Kopf schüttelte.

 

Kriminalhauptkommissar Alexander Schwarz freute sich, seine Mitarbeiter eifrig bei der Arbeit vorzufinden. Das Betriebsklima war aufgrund fehlender Gewaltverbrechen gegen Leib und Leben stark unterkühlt gewesen – Linda und ihr jüngerer Kollege Robert Schütz hatten schon mit dem Gedanken der Dienstquittierung gespielt. Jetzt stand Alexander Schwarz’ Truppe voll im Saft. Das Leben war dank eines toten Musikanten wieder in die Gesichter der Beamten und damit in die Räumlichkeiten der Gessener Mordgruppe zurückgekehrt. Endlich wieder Betrieb. Sogar der alte Gummibaum zwischen Tür und Angel schien etwas vom Glanz früher Tage auszustrahlen.

„Das ist doch purer Kitsch!“, lachte Hauptkommissar Schwarz. Er warf die Tür zum Chefbüro zu und freute sich ob des regen Betriebs bei seinem kleinen Trupp, der zweiköpfigen Mordgruppe, Linda und Robert. Schwarz pustete den Staub vom Blatt des Gummibaums, das sich ihm in Kinnhöhe entgegenstreckte. Alexander Schwarz hatte seit Paulchen Rauters Pensionierung hier das Sagen. Linda Kleistner beendete eben ein kurzes Telefonat, als Schwarz daran ging, das dritte Gummibaumblatt abzublasen.

„Mord!“, rief die hübsche blonde Kommissarin Linda Kleistner.

„Klar, Blut, wissen wir“, lachte ihr gut gelaunter Vorgesetzter Schwarz.

„Nein, Chef, Mord! Noch einer! Arndtgasse!“

Hauptkommissar Schwarz blieb wie angewurzelt neben seinem Gummibaum stehen und verschluckte sich beinah an der selbst entfachten Staubwolke. Noch ein Mord? Das wären dann schon zwei! …

 

7

 

Alexander Schwarz trieb seine Kollegin Linda Kleistner zur Eile. Sie sollten so rasch wie nur möglich am Tatort sein. Schwarz hoffte, Polizeiärztin Gerda Habermas dort anzutreffen. Die schöne Gerda war ihm mit ihrer Arbeit immer zu schnell fertig und gleich wieder weg. Heute Vormittag, beim ersten Mord, hatte Alexander seine platonische Flamme Doktor Gerda nicht einmal zu Gesicht bekommen. Das sollte ihm kein zweites Mal passieren.

 

Dem Musiker Piero Rossi, italienischer Staatsbürger, war mit einem stumpfen Gegenstand das Schädeldach eingeschlagen worden. Und nun, wenige Stunden später, der zweite eingeschlagene Schädel: Wenige hundert Meter Luftlinie von Leiche No.1 entfernt hatte das Leben des österreichischen Staatsbürgers Srecko Olip, Maschinenbautechniker, ein gewaltsam herbeigeführtes Ende genommen: Leiche No.2.

 

Wie Rossi wies auch Olip schwerste Kopfverletzungen auf. Das linke Schläfenbein war in bislang ungezählte Knochenscherben zersplittert. Ob schließlich die Hirnschädigung oder der massive Blutverlust die letalen Folgen gezeitigt hatte, würde demnächst dem gerichtsmedizinischen Gutachten zu entnehmen sein, erklärte Polizeiärztin Gerda Habermas einem der anwesenden Streifenbeamten, als die Kriminalpolizei eintraf. Schwarz strahlte, als er die Ärztin sah. Die Sonne ging auf.

„Gerda!“

„Ah, Xandy, der Chefermittler höchstpersönlich! Ich bin praktisch fertig hier.“

„Oh schade, schon fertig? Ist er wirklich tot?“ Er zeigte mit dem Finger auf das Mordopfer.

Gerda zeigte ihm dafür mit dem Finger den Vogel und grinste. Während sich Linda Kleistner ein Bild zu den bisherigen Erkenntnissen machte, beschäftigte sich Schwarz nur mit der Ärztin. Die ließ sich von Xandy nicht lange aufhalten, klappte den Arztkoffer zu und erklärte die kommissionelle Leichenbeschau für beendet.

„Ich habe so weit alles zusammen. Der gerichtsmedizinischen Obduktion steht nichts mehr im Wege. Xandy?“

„Ja, Gerda?“

„Viel Spaß mit deinen beiden frischen Leichen. Hat mich gefreut, dich zu sehen, bis zum nächsten Mal!“

„Aber Gerda! Ich weiß doch gar nicht …“

Gerda Habermas verwies Alexander Schwarz an seinen uniformierten Kollegen, der wisse über die medizinischen Erkenntnisse ihrer Untersuchung Bescheid.

„Gerda!, oh wie schade“.

Wenigstens hatte er sie für zwei Minuten gesehen. Ein deutlicher Fortschritt zum Mordfall vom Vormittag. Hauptkommissar Schwarz stolzierte im Kreis um den Toten herum. Blut übte auf ihn eine magische Anziehungskraft aus. Im Gegensatz zu allen anderen war Schwarz stets blendender Laune, wenn er ein frisches Mordopfer vor sich hatte: je mehr Blut, umso besser. Strangulationen gefielen ihm gar nicht, beim Kopfschuss leuchtete es zumindest tröpfchenweise, spotweise rot, je nach Zerstörungsausmaß der Blutgefäße, aber hier – der zweite eingeschlagene Schädel innerhalb eines Tages – in dieser Szenerie fühlte sich Schwarz wie ein seliges Kind unter dem Weihnachtsbaum. Es war einfach großartig, wie viel Blut so ein menschlicher Körper in sich trug. Wie viel von dem edlen Saft man zu verlieren hatte! Diese rote Tunke rund um den toten Maschinenbauingenieur Srecko Olip war einfach herrlich anzusehen.

 

8

 

Elisabeth Schranz-Olip, Ehefrau des Mordopfers Numero zwei, sei Montagmorgen um drei Uhr betrunken nach Hause gekommen.

Jetzt saß sie Kommissar Robert Schütz gegenüber. Der hatte ganz augenscheinlich ein hormonell bedingtes Problem.

„Warum ich Sie erst nachmittags benachrichtigt habe?“, wiederholte die Frau.

„Das habe ich Sie gefragt, ja.“

„Das wollen Sie von mir wissen?“ Elisabeth, frischgebackene Witwe, war Roberts Irritation ob ihrer großen Brüste nicht entgangen. Entsprechend kokett wuchtete sie den schwer bewaffneten Brustkorb weit über die Tischplatte und raunte:

„Das kann ich Ihnen ganz genau sagen, Herr Mordkommissar.“ Robert schluckte. Die Brustwarzen zeichneten sich deutlich unter dem dunkelgrauen Stoff ihrer Bluse ab. Er konnte den Blick nicht davon lösen.

„Er war ein Streber!“, zischte Elisabeth Schranz-Olip und ließ sich in den Stuhl zurückfallen. Der Busen wogte aus. Revierinspektor Robert Schütz biss die Zähne zusammen. Schließlich ersuchte er die Witwe des Mordopfers Srecko Olip erneut, die Chronologie der Ereignisse aus ihrer Sicht zusammenzufassen.

„In kurzen, freien Worten, ganz wie Sie wollen“, stotterte er.

Der Kriminalbeamte tat der Witwe leid. Sie fuhr den Körpereinsatz zurück und stattete ordnungsgemäß Bericht ab. Elisabeth Schranz-Olip habe die blutige Szenerie rund um ihren Mann als inszenierten Gag empfunden, sie erinnerte sich, noch lange und ausgiebig gelacht und sich schließlich zu Bett begeben zu haben. Die nunmehrige Witwe Srecko Olips habe gut und lange geschlafen und sei erst frühen Nachmittags aufgewacht. Als sie sich ihre Frühstücksbrötchen bereitete und einen Kaffee aufstellen wollte, sah sie im Vorübergehen, dass ihr Mann immer noch in seinem Büro auf dem Boden lag.

„Und das viele Blut, Sie verstehen.“

Kommissar Schütz wusste nicht genau, ob ihn die Frau zum Narren hielt. Aber wenigstens hatte sie jetzt ihr enges Jäckchen zugeknöpft. Und dann habe sie kapiert: Srecko war tot. Sie habe sofort die Polizei verständigt und noch vor ihrem Frühstückskaffee ein großes Glas Wasser gegen den Alkoholbrand zu sich genommen.

 

Die Einvernahmen gingen also zügig voran. Die dreiköpfige Mordgruppe, Chef Xandy Schwarz inklusive zu dritt, freute sich zu Beginn sogar über die rege Anteilnahme aus der Bevölkerung. Linda Kleistner und Robert Schütz hatten endlich wieder richtig Arbeit.

 

9

 

… Alles begann an einem Elternabend in der Grundschule:

 

Vor über 15 Jahren: Ein Häufchen Mütter und Väter saßen im Klassenzimmer. Sie berieten über das Sortiment der Schulkantine und über Klassenausflüge und über Handyverbote während des Unterrichts. Letzteres war in den Nullerjahren ein richtig attraktives Aufregerthema. Ansonsten verliefen diese Elternabende schrecklich langweilig. Termine eben, die man im Sinne des eigenen Kindes wahrnahm. Einer der Väter kam von der schulischen Thematik ab und machte sich wild gestikulierend Luft über die Arroganz eines Mitbewohners in seinem Mehrparteienhaus. Dieser junge Mann würde sich auf herablassende Weise dem Miteinander der eingeschworenen Hausgemeinschaft entziehen und sich abends nicht mit den anderen an die Gartentische im Innenhof setzen wollen. Mit dieser spontanen Wutrede war der Stein ins Rollen gebracht: Ein zweiter Kinds- und anwesender Schülervater beklagte die laute Negermusik seiner neuen Nachbarn, ein weiterer mochte all diese jungen Typen nicht, die neuerdings durchs Treppenhaus trampelten, und eine Mutter äußerte die Sorge, ihre Schulkinder würden wohl bald mit harten Drogen in Berührung kommen, wenn sich noch mehr Studenten in ihrem Viertel einnisteten.

 

Schuld war, daran gab es keinen Zweifel, in all diesen Fällen nachbarschaftlicher Dissonanz die frisch aus dem Boden gestampfte Universität Gessen. Mitten in den altehrwürdigen Vorstadtbezirk Innerfelden hatten Bund, Land und Gemeinde einen monströsen Campus hineingeklotzt. Alle Proteste der örtlichen Einwohnerschaft prallten ungehört ab. Die Entscheider aus Wirtschaft und Politik zogen ihr Ding durch. Die imposante Uni mit rechtswissenschaftlicher, naturwissenschaftlicher, medizinischer Fakultät sowie der technischen Fakultät für Maschinenbau und Wirtschaftswissenschaften wurde mit gehörigem Pomp eingeweiht. Der technischen Fakultät schloss sich gar ein eigenständiges musikwissenschaftliches Institut an. Seither wimmelte es im ehedem gemütlichen Stadtteil Innerfelden von jungen Menschen, die sich keinen Deut um örtliche Gepflogenheiten kümmerten.

 

Das erste zarte Pflänzchen des Widerstandes gegen diese Umwidmung eines ganzen Stadtteils in ein Univiertel spross an jenem Abend im Klassenzimmer der Innerfeldener Grundschule, vor langer, langer Zeit, vor 15, vor über 15 Jahren, als es nicht mehr um Schulmilch und das Blumenmuster der neuen Vorhänge in den Klassenräumen ging, sondern um die Formierung eines unerbittlichen Netzwerkes gegen den Feind von außen. Wir müssen den Eindringling vertreiben und wir scheuen dabei keine Gewalt. So fing das alles an. Eine Handvoll junger Mütter und Väter beschlossen an diesem Elternabend, sich gegen ungeliebte Hausbewohner, in erster Linie Studenten der neuen Uni zu formieren …

 

Ende der Leseprobe. Toter Nachbar Guter Nachbar ist auf Amazon erhältlich.