Leseprobe Sommer ohne Su, Erzählung
Teil I
1
Wir küssten uns, sie wies das Ticket vor und passierte die Schranke. Wandte sich im Gehen einmal um, winkte, und war
verschwunden.
Minuten später kurvte ich die Parkdeckkehren runter und ins Freie. Sah eine große Maschine ihre Warteschleifen über das
Airportgelände drehen. Ich folgte dem Sog der ersten Autobahnauffahrt, und der Wagen nahm leicht Geschwindigkeit auf. Sie war weg, ich war weg, mir war kalt. Kein Wölkchen bemalte den
Himmel.
Es war Frühling. Der hatte eben noch Aufbruch bedeutet. Wir haben uns den Pullover vom Leib gerissen und gelacht, den Kopf
heftig geschüttelt. Wir hatten Spaß. Und jetzt wars bloß ein Datum, und ein Abschied dazu. Und heiß wie im August obendrein, da hinterm Lenkrad.
Die Straße führte schnurgerade egal wohin, ein straff gespanntes Band, das platzen wollte. Niemand konnte mein Gesicht
sehen, ich hatte nämlich keins. Brummbrumm, schnurrte der Motor, und ich sagte, brummbrumm. Abenddämmerung. Der Wagen drückte aufs Tempo, seine Artgenossen schrumpften im Rückspiegel zu
Sandkörnern, zu Luftlöchern. Vielleicht wollte ich mit einem der grauen Radarkästen am Fahrbahnrand tauschen.
Von schräg hinten oben kroch ein Flieger heran, der querte meine Fahrtroute, der war sonnenbeschienener Ikarus, der glühte
förmlich, das war Su. Da flog sie dahin. Meine Su, mit schwarzblauer Mähne und den zwei großen Augen, unterwegs über ferne Lande und fremde Ozeane. Wir würden uns Wochen und monatelang nicht
sehen.
Ihren Schatz, Hans Guckindieluft, zog es auch hinfort, bloß konnte der nicht fliegen. Der war ich. Zwei blütenweiße
Kondensstreifen am Firmament, ein kurzes Lächeln, und gleich feuchte Wimpern. Als ich von der Autobahn abfuhr, klunkerten schon ein paar betrunkene Sternchen da oben.
Ich kaufte noch zwei Bier, die schüttete ich runter. Dann warf ich mich aufs Bett und schlief. Geträumt habe ich in dieser
Nacht nach diesem Tag nichts.
Morgens darauf erwartete mich der Arbeitsalltag: zerstreuendes Herumfuhrwerken, routinierte Handgriffe. Gondelte von einem
Kunden zum nächsten und brachte deren Kopiergeräte auf Vordermann. Und fluchte im Straßenverkehr. So gingen die Tage gerecht dahin. Den Lebensunterhalt bestreiten und alles andere
vergessen.
Hinter mir quietschten die Reifen wie Hölle, als ich die Omi mit Strohhut am Fußgängerübergang rüberließ. Ein Augenblinzeln
mehr, und der wäre mir voll hinten reingekracht. Der Blick in den Rückspiegel ließ ein kleines Filmchen mit einem wutentbrannten Taxifahrer ablaufen, der es wohl gerade sehr eilig zu seinem
nächsten Kunden hatte. Ich eben nicht, Pech gehabt. Das fleischbeladene Gesicht des Männchens tobte und schwabbelte hin und her, und sein Inhaber wollte mir auf der Stelle das Lebenslichtlein
ausblasen, bloß wusste er nicht wie. Derweil war Großmutter am rettenden Ufer angekommen und winkte mir mit ihrem breitkrempigen Deckel zu. Sie lachte hell wie die Sonne, und ich gab mir dabei
Mühe, mit ihr mitzuhalten.
Dann stand das nächste Bürogerät auf dem Plan, das es zu versorgen galt. Schmutzige Arbeit mit giftigen Tonerharzen. Danach
wieder rein ins Auto und weiter. Diesmal mimte ich den Hintermann, dem das alles zu langsam voranging. Das Ampellicht funktionierte doch tadellos: Rot verblasste und erlosch, Grün knipste sich
an, alles vorschriftsmäßig. Aber der Schläfer vor mir ignorierte die klaren Zeichen, die ihm die bunten Lämpchen von oben zusandten. Rührte sich nicht vom Fleck. Ich ließ die Hupe erst schüchtern
pupsen, dann doch auf Dauerton erschallen. Vielleicht ist der Arme nur tot, dachte ich. Aber schließlich rollte sein Wägelchen doch los, bei Rotlicht. Da hupte auch der Querverkehr. Dann löste
sich unser Blasmusikorchester wieder auf. Ich durfte noch eine Runde auf Grünlämpchen warten.
So gingen meine Tage redlich dahin. Gegen Abend kaufte ich zwei Bier, beim Diskonter oder an der Tankstelle, je nachdem, wie spät es wurde. In der Nacht schlief ich. Draußen war schon der Jahrhundertsommer zu riechen. Eine Bemerkung am Rande: Ich halte Kopiergeräte für nutzlose Staubfänger: heimtückisch, gefühlskalt, unberechenbar.
2
Wenn ich die Wohnungstür aufsperrte, betrat ich kein Zimmer von Traurigkeit und Langeweile, keinen Bunker der Depression.
Denn ich hatte ja Fips. Wo sie sich den ganzen Tag rumgetrieben hatte, welche Streiche ausgeheckt, wen sie wieder bis zur Weißglut gereizt hatte mit ihrer Bosheit, das alles erzählte sie mir nie.
Wenn ich reinkam, rekelte sie sich auf der Matratze und blinzelte mir schelmisch zu. Braves Mädchen. Fips ist Sus graues Tigerkätzchen, und ich der angeheuerte Katzensitter. Passte mir recht gut
in den Kram. Brauchte nur selten die Katzenstreu erneuern, ansonsten täglich den Futternapf füllen und Wasser bereitstellen. Wenn sie dazu ein Stäbchen Pommes oder Röschen Blumenkohl abbekam,
drehte Fips vor Glück völlig durch und hopste minutenlang auf und nieder wie ein Floh.
An einem dieser ersten Abende schmiegte sich das Tierchen besonders energisch an meine Fußknöchel. Es hatte mir etwas zu
zeigen. Ich warf mich direkt aus den Schuhen aufs Bett, Fips gleich hintennach.
Fingerte noch an der TV-Fernbedienung rum, als ich auf dem Board was liegen sah, das am Morgen noch nicht dagelegen hatte.
Symmetrisch links und rechts vom alten Fernseher, zwei breite matt schimmernde Bänder, die mich anlächelten. Ich betätigte die müden Bauchmuskeln um mich aufzusetzen. Undefinierbar. Näherte mich
neugierig den unbekannten Objekten und begann zu strahlen, mit runden Bäckchen.
Ich schnappte die zwei Dinger und ließ mich wieder rücklings aufs Bett fallen.
Dabei hätte ich beinah die Katze unter mir begraben. Aber Fips war mit einem Satz unter mir durch und kreischte mich an, ich
solle nach Möglichkeit besser aufpassen.
Was sie da zu beiden Seiten des Flimmerkastens deponiert hatte, war als großzügiges Geschenk gedacht. Von der Hauskatze für
den Menschenaffen, von Fips für mich. Zwei Scheinchen, zwei kleine, mit deutlichen Abdrücken von Tigerzähnen. Für drei Bier am Imbissstand oder eine Sonnenbrille für die lange
Saison.
Fips hatte wohl bemerkt, dass Frauchen wieder einmal verreist war, und dass sie es sich jetzt exklusiv mit mir einzurichten
hatte. Um ihren guten Willen zu zeigen, ließ Schmusekätzchen gleich ihren ganzen Charme spielen und wartete mit dieser äußerst netten Geste auf. Wem sie das Geld aus der Tasche gezogen hatte, war
mir egal, feierabends, wenn die Dämmerung leicht graut. Da vertraute ich ganz auf Fips‘ untadeligen Instinkt.
Sie würde sich niemals an die Handtasche betagter Damen heranmachen, die an ihrem letzten Brotkrümel zu knabbern haben. Wenn
die Katze beschloss, Geld nach Hause zu bringen, suchte sie die Nähe richtiger Widerlinge. Jedenfalls war Fips eine begnadete Taschendiebin. Sie wurde nie erwischt und von niemandem erkannt.
Besonderes Augenmerk legte sie auf die Wahrung ihrer Anonymität. Top Priorität. Dafür durchquerte sie oft die halbe Stadt, ehe sie ihr Opfer auswählte. Ich weiß von nichts.
Dass sie die Beute an ihren Mitbewohner weitergab, machte Fips zu einer ganz besonders liebenswerten Katze. Übrigens: nur
kleine Scheine. Nicht dass jemand auf die Idee kommt, Fips für kriminell zu halten. Nein, nur kleine Scheine. Sie nimmt nur Zehner und Fünfer, und nur für den guten Zweck.
– Danke Fips, ich weiß deine Aufmerksamkeit zu schätzen.
Sie bekam zwei von ihren Lieblingscrossis, und es krachte, und sie schmatzte. Und ein Röschen Blumenkohl. Das reicht schon.
Fips hopste wie ein Floh. Dann machten wir es uns bequem.
3
Zu Sonnenaufgang legt dir die Arbeit ihre Schwingen übers Haupt. Ritzt dir mit ihren fürsorglichen Krallen die Schlagadern
auf. Diese Rabenmutter! Lässt dich vor Sonnenuntergang wieder fallen, aus ungeahnten Höhen, in ungeahnte Tiefen, oder verkehrt rum, so in der Tonart.
Im Fond meines weißen Opel Kombi türmten sich die Koffer mit Werkzeug und Ersatzteilen. Der Rückspiegel war zum
Dekorationsstück verkommen. Ich fuhr die Rampe rauf. Der Schlüssel sperrte das Schloss. Den ozonträchtigen Dampf im Technikerbüro schluckst du runter und hast ihn schon vergessen. Ich druckte mir
ein paar Störungsmeldungen für den Tag aus, legte die Fahrtroute für meine Einsätze zurecht, überprüfte die Ersatzteilliste. Der Schlüssel sperrte das Schloss ein zweites Mal, und ich fuhr die
Rampe wieder runter. Nur selten traf ich frühmorgens in der Firma einen meiner Kollegen an. Und wenn doch, so entsponnen sich in der Regel hochbrisante Diskussionen:
– Wird heiß heute.
– Dir auch.
– Du sagst es.
– Bis dann.
Kein Stress. Sowie die ersten warmen Sonnenstrahlen das Sommerjahr einläuten, werden die Störungsmeldungen rar. Keine Ahnung
warum das so ist. Wo die Urlaubssaison doch noch so fern ist. Zwischen Weihnachten und Pfingsten ist hier der Teufel los, unsereins hetzt von einem aufgebrachten Kunden zum nächsten. An die
Stelle von Sorgfalt und Präzision treten Tempo und Improvisation. Im Sommer bleibt dann genug Zeit, um den angerichteten Schaden wieder gutzumachen. Zeit, die geschundenen Kopiermaschinchen
durchzuchecken, Zeit für die vorbeugende Wartung.
Der Wonnemonat Mai: Lockerungsübungen für die angespannte Muskulatur.
Ich betrat das Büro:
– Guten Morgen, wie geht es dem Patienten?
Die Vorzimmerdame warf sich in Jubelpose.
– Ach Sie sind schon da! Sie sind ein Schatz!
Tätschelte meine Schulter, geleitete mich in den Kopierraum, und war in Anbetracht meiner überpünktlichen Visite regelrecht
berauscht. Wohlgesinnt sei mir dieser Tag und alles Treiben unbeschwert. Das Maschinchen warf dunkle Kopien aus, leichtes Spiel für mich. Bisschen Toner wegwischen, das Spiegelwerk abstauben, die
Belichtung einstellen. Kurzweilige Arbeit für ein gutes halbes Stündchen.
Während ich mich also an der Büromaschine nützlich machte, schlängelte gar die Reinigungsdame des Hauses herbei und
überreichte mir ihren exklusiven Putzlappen.
– Nehmen Sie ihn, er soll jetzt Ihnen allein gehören!
Die Welt ist mir heute gewogen. Meine Wohltäterin hatte ihre Morgenschicht bereits hinter sich gebracht. Also blieb sie in
der Türe stehen und schaute mir dabei zu, wie ich mit ihrem Präsent mein Allerbestes gab. Welch famoser Scheuerlumpen! Saugfähig, reißfest, echte Baumwolle! Und so entspann sich ein Gespräch der
tieferen Art zwischen Putzmann und Putzfrau:
– Wird heiß heute.
– Sie machen das richtig gut.
– Sie sagen es.
4
Samstag. Was ich fürs Wochenende an Mundvorrat brauchte, das kaufte ich ein. Spaghetti Mineralwasser Tomaten Bohnen. Dann
fuhr ich raus. Die Wolken strahlten freundlich, weißgewaschen und zum Trocknen in den Himmel gehängt. Unterwegs rief ich Curt an.
– Hi, ist was los?
– Nichts los, alles tot. Schaust vorbei?
– Klar. Halbe Stunde.
Ich schaute vorbei. Wir lungerten im Wohnzimmer rum und zogen uns wie immer Curts Musikvideos rein. Curt wohnte wieder bei
Muttern. Die reichte uns den üblichen Napf Schokokekse. Curt und ich wärmten also Geschichten von früher auf, von der guten alten Zeit, die wir damals als Arbeitskollegen genießen durften. In der
schmuddeligsten Bruchbude waren wir vor allen erhältlichen Regionalblättern gehockt, als hauptberufliche Zeitungsleser. Hatten wir die Zeitungen durch, berichteten wir unseren Auftraggebern, was
so über sie geschrieben stand. Die Auftraggeber waren alle möglichen und unmöglichen Firmen und Privatpersonen, wie etwa auch einmal ein Massenmörder. Per Post, per Fax, erstatteten wir Bericht
zu Frequenz und Inhalt ihrer Präsenz in der gedruckten Medienwelt. Nannte sich Printmedienbeobachtung, war mies bezahlt und gibt es heute in dieser Form wohl nicht mehr, vermuteten
wir.
Alte Geschichten werden zäh, wenn man sie zu oft durchkaut. Curt schlug einen Ausflug zum Stausee vor.
– Essen, vorher aber was essen,
warf ich ein und pappte mit dem Zeigefinger zum x-ten Mal die letzten Schokokrümel zu einer immer kleineren Pyramide
zusammen. Schon hoher Nachmittag, löffelten wir im Gasthof Zum Hellen Stern den sprossigen Chinesenzauber mit Glutamat rein. Curt hatte sich bisher recht wacker gehalten, aber als wir schließlich
die Kehren zum See hinaufknatterten – er schon intensiv mit der offenen Whiskyflasche vom Tankstellenshop beschäftigt – da überkam es ihn doch.
Die Erinnerungsbrandung schwappte über ihm zusammen, und Curt verlor sich in der hochprozentigen Gischt. Als erste turmhohe
Welle kam wie immer Curts Verflossene Monika angebraust, und drüber hinweg klatschte der Wogenschlag ihres gemeinsamen Töchterchens Sissi, direkt auf Daddys Platte. Curt vermisste seine kleine
Sissi so sehr. Irgendwann zwischen der zweiten und dritten Promille verlor er die Fassung und jammerte mich voll. Jedes Mal dieselbe Leier. Jedes Mal derselbe Programmablauf: Szene eins brachte
allerlei Vorwürfe gegen Monika ins Laufen, die in Szene zwei zu wüsten Schmähungen ausarteten, um den Protagonisten schließlich im dritten und letzten Aufzug zusammenbrechen zu lassen, weil ihm
das Sorgerecht für seine Tochter entzogen worden war. Wenn er Sissi nur wenigstens einmal pro Woche sehen könnte! Die Weinerlichkeit im Tonfall nahm in jenem Ausmaß zu, in welchem die Flasche von
oben nach unten hin luftiger wurde. Zum Schluss begeht der Held Selbstmord, und die leere Whiskyflasche liegt traurig neben ihm.
– Ich bringe mich um,
sagte Curt.
– Wie willst du das anstellen?
– Sicher nicht mit dem Strick. Ich fahre mit dem Wagen in einen morschen Strommasten. Der fällt um, und dann zischts
anständig,
höhnte er und gönnte sich einen großen Schluck.
– Klingt nicht gerade ausgereift dein Plan.
Dann waren wir oben am Stausee, rundum tiefgrünes Nadelgehölz, und ließen die Arme übers Geländer baumeln, den Blick ins
schwarze Wasser getaucht. Die Dämmerung legte uns endlich ihr mattes kühles Tuch an die Wangen, sodass ich ganz betört auf der Stelle wegschlafen wollte. Curt kramte in seinen Sachen und hielt
mir eine eiskalte Dose Bier vor die Nase.
– Wo hast du die her?
Zisssch, herrlich!
Geld ist weg, Frau ist weg, alles weg, alles weg. Augustin liegt im Dreck. Curt hatte allzu verwegen mit den Gewichten
jongliert und dabei die Balance verloren. Die Waagschale kippt und Curt geht über Bord. Über ein Jahr lang schmeckte er seither nur Erdscholle, Staub, und trug das Augenlicht gerade vier
Zentimeter über Seehöhe. Frau und Kind sind weg, unser Curtchen liegt im Dreck. Alles ist hin, o du lieber Augustin.
Dann spuckte ich wieder ins Wasser und sah die Kreiswellen sich behäbig davonschicken. Dachte an Su.
– Schön,
sagte Curt.
– Ja.
– Mein armer alter Freund Erich liegt jetzt in der umgekippten Containerklokabine und erstickt gerade am blumigen Duft von
Schokobällchen.
– Ach so?
– Ja.
Keine Ahnung, wo Curt gerade hindelirierte. Ich kannte keinen Erich.
– Die Dreckskanaille hat wieder einmal meine Monika schlecht gemacht. Ich musste Freund Erich ruhigstellen. Alles hat seine
Grenzen. Gestern, das war gestern,
führte Curt aus. Ich glotzte ihn platt an. Platsch. Das war Curts leere Schnapsbottl. Pendelte sich ein und taumelte ganz
aufrecht und heiter in Richtung Staustufe.
– Na, so ein mobiles Klo. Toilettenkabine aus Plastik, klärte mich Curt geduldig auf. Am Almer Teich steht so ein Dixi Ding.
Jetzt liegt es da. Nur für Badegäste steht schon vorsorglich drauf, blau mit grünem Dach. Gestern Nacht habe ich den Erich da reingedrängt, wie er über die Monika lästern wollte. Dann das
Hüttchen auf die Tür gekippt. Wahrscheinlich ist er schon abgekratzt. Geschieht ihm recht. Im Juni werden ihn die ersten Sonnenanbeter finden. Da wird er schon riechen. Verwesung im süßen Duell
mit den Duftwolken der Exkremente.
Alkoholisiert konnte Curt richtig poetisch werden.
– Dann ist auch jetzt noch keine Scheiße im Dixi drin,
fiel mir spontan ein. Ich war längst hellwach, keine Rede mehr von Träumereien am schwarzen Wasser.
– Dochdoch, schon ganz gut gefüllt,
frohlockte Curt,
– die haben den Teich zwei Wochen lang ausgebaggert für die Sommersaison. Da durften die Arbeiter auch das Dixi
einweihen.
– Bist ja schon total hirnverbrannt.
– Ach um den Erich ist es nicht schade. Irgendwann muss jeder einmal sterben.
Das war real, kein Scherz. Curt hatte nichts zu verlieren. Der lässt denjenigen glatt verrecken, der seine verklärte
Vergangenheit ankratzt. Im Handumdrehen saß ich hinterm Lenkrad.
– Die bestausgestattetste Zelle auf der ganzen Welt,
lachte Curt beim Seitenfenster herein,
– mit Seifenspender und Papierhandtüchlein.
Ich stieg aufs Gaspedal. Im Rückspiegel sah ich ihn winken. Und hörte ihn schreien,
– die Monika ist keine Schlampe meine Monika nicht!
Dieser Spinner! Unterwegs die engen Kehren hinunter musste ich laut lachen. Übergeschnappt ist er. Curt in seinem
chronischen Liebeskummer, geschwappt übern Klobrillenrand hinaus! Alles ist ihm egal. Verschwindet für zwanzig Jahre hinter fetten Gittern, wie unbedeutend. Ganz schicksalsergeben. Das Lachen
verging mir bald wieder.
Den Typen hole ich möglichst lebendig wieder raus aus seiner versifften Klokabine. So schnell geht so ein Flämmchen nicht
aus. Meine Vorfreude auf die Bekanntschaft mit Curts gutem Freund Erich hielt sich Grenzen. Ich gähnte intensiv, um zu testen, wie es um meinen Würgereiz bestellt war. Intakt. Ein
Entgegenkommender hupte mit Horn und Blende, als ich überholte, und ich musste verreißen. Die Formel I hat noch nicht angeklopft bei mir. Wird aber höchste Zeit.
Ich kannte den Weg zum Teich. Vor Jahren war ich dort ins Wasser gegangen, im Hochsommer. Ein schwerer Fisch hat im trüben
Sud meine linke Wade recht wuchtig gestreift. Ich bin im Eiltempo zurück ans Ufer gekrault.
Jetzt gings um Leben und Tod. Freilich beschäftigte mich die ganze Fahrt über mehr Curts Befinden als jenes des beschifften
Plumpsklohäftlings. Grundsätzlich befürchte ich immer das Schlimmste. In diesem Fall, dass sich Curt, angesoffen wie er inzwischen war, in den eiskalten Bergsee verabschieden könnte. Aber Curt
war mittlerweile sattelfester Alkoholiker und zudem ein geübter Schwimmer mit dem Herzen eines Bären. So einer geht nicht unter, auch wenn er alles daransetzt.
Hatte ihn da oben zurückgelassen, um ein neuerliches Zusammentreffen Curts mit Toilettenbewohner Erich zu vermeiden.
Vermutlich lebte dieser Erich noch. Ein Tag im Menschenmist sollte auszuhalten sein. Man ist ja einigermaßen abgehärtet.
Ich stellte den Wagen ab und sah durchs Gestrüpp das farbenfrohe Häuschen, jetzt in abendlicher Blässe, bäuchlings am
Waldrand liegen. Todsicher eingekeilt. Wie auf ein Nickerchen, bevor die buchstäblichen Scheißer kommen. Es war noch nicht finster, aber der Teich lag da wie ein verwesender Kadaver.
Schwarz.
Was war ich doch einst ein kühner Kerl gewesen, dass ich mir von dieser Mördersuppe die heiße Stirn hatte abkühlen lassen!
Drei Meter lange Welse gleiten mit aufgerissenen Mäulern durch die Untiefen. Was ihnen zwischen die Barteln gerät, verschwindet für immer im Jenseits. Kein Windhauch regte sich. Ich würde lügen,
würde ich behaupten, dass ich den Atem anhielt.
Ich hielt den Atem an. Pirschte mich an den Tatort heran. Die Ente quakt. Eine gottverlassene Gegend hier draußen. Der
Frosch quakt auch. Aber der erst im Sommer. Sowie ich anklopfte, stieg mir der Geruch in die Nase. Widerlich! Der Stinker machte,
– ähhh!
Er lebt. Ich dachte an Curt und wollte gleich wieder umdrehen. Aber da war noch was. Ach ja, vorher musste ich mich noch um
den Nichttoten kümmern. Die Kabine saß fest, ich hatte einiges zu tun, um Bewegung rein zu bringen. Als ich das Häuschen schließlich mit beiden Händen zur Seite gerollt hatte, wunderte ich mich,
dass durch keine Ritze ein Sickern kam. Doch als das Tor zur Freiheit aufging, wurde mir ganz anders. Nämlich übel.
– Mann ich, ähhh,
röchelte der Sportsfreund. Dann kam ihm der gelbe Sprudel aus dem Mund gelaufen. Ich tippte auf gelb, so klar kann man das
nicht sagen, wenn die Scheinwerfer nicht an sind.
– Hi Erich,
erklärte ich ihm seine Rechte,
– falls du vorhast, Curt irgendwelche Probleme zu machen, bist du ein toter Mann!
– Eeh Alter, was? Mann!
– Toter Mann.
– Danke Mann, eeh Scheiße.
– Ist nicht zu übersehen.
– Eeh, Alter ich …
Er schaute mir treuherzig in die Augen, und ich kanns beschwören, in diesem Moment fiel ihm der Uringlitzer aus den
Wimpern.
– Eeh Mann ich kenne keinen Curt,
stöhnte er goldig. Er hatte verstanden. Der Kerl war ein Fleischbrocken, ein markig aufgepumptes Muskelmännchen. So einer
lässt sich also widerstandslos in die vermeintliche Todeszelle schubsen, nicht übel.
Den Wagen wollte ich nicht komplett versauen. Ich schickte Erich ins Bad. Was hat so ein Tümpelwässerchen Mitte Mai?
Fünfzehn sechzehn Grad? Jedenfalls genoss mein Schützling die Abwechslung. Für ihn gab ich meine letzte Autodecke hin, meine einzige, meine allerletzte. Seine faulige Garderobe überließen wir
etwaigen wilden Tieren zum Fraß. Dann wuchteten wir uns auf den Rücksitz. Erich ließ ich da liegen, und mich selbst setzte ich ans Steuer.
Ende der Leseprobe. Das E-Book Sommer ohne Su ist auf Amazon erhältlich.